One Team One Spirit war das Motto. Lest selbst die Geschichte einer einzigartigen Unternehmung. Aus dem Zufall entstanden, im Geiste gereift und schließlich am schwarzen Brett einer Weltfirma veröffentlicht. 12 Alpencrosser – die heterogenste und harmonischste Truppe die jemals die die Alpen überquert hat.  …. aber eines nach dem anderen:

Projekt 2016 ALP

Zuerst war da so ein Gedankenblitz. Eine Idee, zugegeben, etwas abwegig. Doch der Gedanke nahm Gestalt an, formte sich zu einem Konzept und schließlich hing die Ausschreibung am schwarzen Brett. 600 Mitarbeiter konnten es lesen – es gab kein Zurück. Projekt „2016 ALP“ stand da (unsere großen Projekte bestehen immer aus vier Ziffern und drei Buchstaben) und weiter: „eine Alpenüberquerung, maximal zwölf Teilnehmer, sportlich aber mit Genuss. Interessenten mögen sich bitte direkt bei mir melden.“ Der Ball war im Feld.

Pünktlich zum Meldeschluss hatten 12 Teilnehmer verbindlich zugesagt. Die Tour war schnell geplant. Man nehme die Highlights aus den letzten Jahren, teile die Etappen so auf, das niemand Anlass zum Meckern hat und organisiere 12 Betten, möglichst ideal am Streckenverlauf gelegen. Nur noch Anfahrt, Abfahrt – fertig ist der Alpencross im Firmenformat auf rein privater Basis.

Der erste Tag – Ehrwald – See (73km, 1505Höhenmeter, 5:13h Fahrzeit)

Der Plan war klar: Samstag, 6.44h Abfahrt, Bahnsteig Traunstein. Der Firmenkalender im Outlook war für alle 12 Aspiranten gepflegt, die Informationslage eindeutig. Je besser man plant, desto schlimmer spielt der Zufall seine Karten. Am Abend zuvor gab es die schrecklichen Ereignisse in München. Die Meldungen im Fernsehen waren beunruhigend: der Münchner Bahnhof war evakuiert. Kommen wir überhaupt mit der Bahn bis Ehrwald? Kurzentschlossen disponiere ich um. Ein Reisebus wird organisiert, Whatsapp macht die Abstimmung möglich. Wir starten Samstag, 7.30h ab Firmenparkplatz. Abfahrt Ehrwald planmäßig 10.30h, die Bikes sind gesattelt, die Rucksäcke voller Motivation und Adrenalin.

12 Radler, 12 Kollegen, bunt gemischt, der maximale Altersunterschied beträgt schlappe 30 Jahre, alle Hierarchiestufen sind vertreten, vom Geschäftsführer bis hin zum Sachbearbeiter sind alle bis unter die Haarspitzen motiviert, wenngleich (nahezu) jeder für sich proklamiert zu wenig trainiert zu haben. Der Vater der Idee hatte versprochen, dass es eine „machbare“ Tour werden sollte, sprich: sportlich ja, herausfordernd auch, aber mit Genuss, ohne Hektik und vor allem auch unter dem Aspekt „one Team, one Spirit“ im Sinne von „der langsamste bestimmt das Gruppentempo“. Wir rollen gemütlich über die schönen Wald- und Wiesenwege hinauf zum Fernpass. Die Stimmung ist bestens. Die Arbeitsinhalte treten in den Hintergrund. Wichtige Informationen sind jetzt: wie viel hast Du gepackt, was hast Du dabei und warum ist Dein Rad so leicht? Gruppendynamisch wurde bereits im Vorfeld die Packliste optimiert, nur 3x ein Erste Hilfe Set, 4 Luftpumpen, Schläuche in unterschiedlicher Größe und Ventilausstattung, sowie sogar eine Dämpferpumpe. Der Fernpass ist schnell erklommen, und unterwegs trifft man sogar den Kollegen M. aus der Konstruktion. Großes Hallo.

Von Ehrwald geht es weiter in Richtung Landeck, von dort muss ein garstiger Buckel bis hinauf nach Tobadill überwunden werden, die letzte Hürde jedoch ist ein etwas langwieriger Trail, der oberhalb der Ortschaft See verläuft und erstes fahrtechnisches Können abruft. Die Protagonisten schlagen sich wacker. Die Truppe ist homogen, bleibt immer in Sichtweite zusammen und im Zweifel wird geschoben. Wildes Gestrüpp, ein donnernder Bach der in die Tiefe stürzt, zwei Brücken, die bestenfalls etwas breitere Bretter sind, halten das Team nicht auf. Der erste Tag wird entsprechend euphorisch gefeiert.

Der zweite Tag – See- Heidelberger Hütte (32km, 1452hm, 3:24h Fahrzeit)

Ich versprach ja: keine Hektik, kein Stress, alles soll (meist) fahrbar bleiben. Heute halte ich dieses Versprechen. Keine 40 Kilometer gilt es zu bewältigen, das Endziel liegt nach der einzig richtigen Steigung auf einer Höhe von 2200m und der Nachmittag ist zur freien Verfügung. Wir starten frohgemut in Richtung Kappl, rollen hinunter um ein ganzes Stück vor Ischgl den ersten Berg in Angriff zu nehmen. Warmup Modus. Harmlose, aber wunderschöne Wiesentrails entlang am wilden Bach lassen erahnen, was uns die Tage noch erwartet. In Ischgl angekommen, ist ein zweites Frühstück erlaubt. Der eine oder andere hat nun doch etwas Respekt vor rund 1100 Höhenmeter am Stück. Unverändert ist jedoch die Stimmung. Positive Energie liegt in der Luft, die Oberschenkel haben Witterung aufgenommen. Die Höhenluft lockt. Steil führt die Passstraße zur Gampen- und Bodenalpe hinauf, um auf einer Hochebene dann den traumhaft malerischen Weg hinüber zur Heidelberger Hütte frei zu machen. Wir schwitzen und jeder bekämpft seinen individuellen Schweinhund auf seine Art. Oben angekommen, spürt man wie der Stolz die Männerbrüste anschwellen lässt. Der Blick hinauf zum Fimbapass (2608m) verschafft zusätzliche Vorfreude. Der Hüttenabend selbst ist so, wie Hüttenabende eben sind: gemütlich, urig, von Gesprächen durchsetzt und eine Quell der Freude, Mir hat man das Bergführerzimmer zugewiesen, was immer das zu bedeuten hat.

Tag Drei, Königstag – Heidelberger Hütte – Latsch (56km, 1862hm, 6:24h Fahrzeit)

Der erste Teilnehmer wird bereits im Morgentau vor der Hütte gesichtet. Es ist 6.12h. Geplante Abfahrt 8.30h. Wir frühstücken und stellen uns der heutigen Herausforderung. 400 Höhenmeter geht es steil und unwegsam hinauf zum Fimbapass. Es ist alpin, Trittsicherheit ist erbeten und von Fahren ist für die nächsten gut 60 Minuten keine Rede. Der Guide lebt noch, keine Anklage wurde erhoben. Oben angekommen, stellt sich dieses stolze Grinsen wieder ein, Fotos werden geschossen, jeder für sich dokumentiert die ersten Teilerfolge des Tages. Erkämpftes darf auch wieder abgeschmolzen werden. Alte Crosser-Regel. Wir stürzen ins Tal. Anfangs noch auf sehr unwegsamen Gelände, später dann – auf der Schotterstraße – zackig und endorphin geschwängert. Jeder ist konzentriert und manch ein Ingenieur bekommt so eine latent kindliche Prägung. Jauchzen, Schreie und andere – scheinbar als unvernünftig eingestufte – Handlungen werden zelebriert. Erwachsene Männer beim Sport. Herrlich. Wir grooven nun – nach verdienter Kaffeepause – hinunter nach Sur En, dem berühmt berüchtigten Einstieg in die Val di Uina Schlucht. Was soll ich groß erzählen: jene, die diese Schlucht kennen, wissen Bescheid, all den anderen sei gesagt: stellen Sie sich zwei riesige, steil aufragend, schroffe Wände, Felsflanken vor. Auf der einen Seite hat ein Riese mit seinem Daumen eine Nut „hineingefrässt“, zwischendrin geht es Todes nah bergab und unten tost ein wilder Fluss. Durch dieses steingewordene Nadelöhr müssen wir hindurch. Der Geschäftsführer und der Sachbearbeiter, der Guide auch. Es ist anstrengend und von Gemütlichkeit kann aktuell nicht gesprochen werden. Aber es ist eine Kulisse, die uns Kraft schenkt, die Flügel verleiht und dafür sorgt, dass im Kopf Purzelbäume geschlagen werden. Atemberaubend. Mehr ist nicht zu sagen: man sollte es in einem (Biker)Leben einmal gemacht haben.

So kommt es, wie es kommen sollte: der Tag 3 wird zum Königstag erkoren, die abendlichen Rückblenden beim gemeinsamen Essen in Latsch sind gespickt von Anekdoten und vielen „Ah´s“ und „Oh´s“ und vor allem einem: Glück.

Tag 4 – Latsch – Grosio (90km, 2061hm, 6:59h Fahrzeit)

Heute trennt sich die Spreu vom Weizen. Wir erkämpfen uns den Weg hinauf nach Müstair in der Schweiz und schließlich hinauf auf die traumhafte Hochebene, das sogenannte Val Mora. Postkartenmotive allerorten. Gegen frühen Nachmittag ist auch der Lago Fraele erreicht und die heiß ersehnte Rast lässt die erschöpften aber glücklichen Helden in die Gartenstühle sinken. Doch noch sind wir nicht am Ziel, das heute Grosio heißt. Wolken ziehen auf und als wir oberhalb von Pedenosso stehen und auf die gut 20 Kehren hinab blicken, gilt es zu entscheiden: Chicken Way untenrum, oder weitere gut 400 Höhenmeter über den kernigen Passo Verva abarbeiten. 5 Männer nehmen den Chicken Way, 7 Ingenieure entscheiden sich für: wenn schon, denn schon. Das die Wolken mittlerweile ein Gewitter ankündigen, scheint niemanden wirklich zu bekümmern. Später herumgereichte Fotos, Motiv Radler in Regenklamotten im Trinkbrunnen, bekunden eindrucksvoll, dass Regen oftmals überbewertet wird. Die Stimmung ist unverändert auf einem äußerst hohen Niveau, keiner scheint ernsthafte Zweifel an einer erfolgreichen Inbetriebnahme von Projekt 2016 ALP zu haben.

Tag 5 + 6 – Grosio – Ponte di Legno – Madonna di Campiglio (110km, 3197hm, 8:48h)

Mit den Glückshormonen der vergangenen zwei Tage reichen wir locker bis zum Lago. So sind die kommenden zwei Tage eher Transfer Tage. Es geht über den Passo Mortirolo (1852m) hinunter und dann wieder hinauf nach Ponte di Legno, schließlich zum Passo Tonale (1884m) und von dort bergwärts nach Dimaro. Dort wiederum erwartet uns der Endspurt hinauf nach Madonna di Campiglio. Die Tage fünf und sechs sind geprägt von heiterem Radeln, welches gelegentlich durch anstrengende Bergeinheiten unterbrochen wird – zum Glück werden aber keinerlei Beschwerden bei der Reiseleitung abgegeben. Wir erkämpfen uns die Teeranstiege und als wir Malga Mondifra oberhalb von Madonna erreichen, liegt der gröbste Teil der Arbeit hinter uns. Hinunter geht es nun vorbei am Sentiero dell ’ Orso, und den Vallesinella-Wasserfällen. Unser Endziel am vorletzten Tag heißt „Pra della Casa“. Was klangvoll scheint, entpuppt sich als Highlight Nummero drei auf dieser Tour. Eingebettet in einem malerischen Tal liegt ein liebevoll restauriertes Haus, welches uns nicht nur ein unvergleichliches Abendmahl sondern auch eine perfekte Unterkunft bietet. Wir sind hin und weg. Wunden lecken, Wein bestellen, innehalten, einsaugen, Kraft tanken. Morgen ist Lago-Tag. 11 glückliche Kollegen um mich rum. Wunderbar.

Tag 7 – Pra della Casa – Riva (75km, 853hm, 3:56h Fahrzeit)

Wer den Fimbapass knackt, Val di Uina rockt und übers Val Mora auch noch den Passo Verva bezwingt, der schafft auch die letzten 75 Kilometer bis nach Riva. Wir starten entsprechend euphorisch. Mittlerweile hat sich der Slogan „one Team – one Spirit“ in der Blutbahn festgesetzt, wir haben eine Herzfrequenz, 24 Oberschenkeln melden Muskelkater ja, aber egal, der Kopf will nach Riva, die Räder auch, nichts kann uns heute bremsen. So mag es nicht verwundern, dass auch die letzte Hürde, der Passo Duron, uns nicht aufzuhalten vermag. Vorbei am türkis schimmernden Lago Tenno wird der Sinkflug eingeleitet. Riva, ich rieche es immer schon kurz vorher. Endorphine.

Fazit: auch wenn mir nicht zu jedem Zeitpunkt wirklich wohl war, mit der (wirren) Idee „2016 ALP“. 12 Kollegen, eine Woche, knapp 11.000 Höhenmeter können sich auch ganz anders auswirken, Stichwort Lagerkoller und viele andere Unabwägbarkeiten. Doch „one Team – one Spirit“ hat sich bewährt, ein Alpencross der besonderen Art, wahrscheinlich der erste Firmenalpencross im Chiemgau in dieser Größenordnung. So gesehen: was alles aus einem Gedankenblitz werden kann. Unbeschreiblich. Danke für diese wertvolle Zeit.

***

© Udo Kewitsch, 21.08.2016