alle Jahre wieder ruft die Spezi zum „schaut mal her“ … dieses Jahre fällt sie aus. Wegen Corona geschlossen. Doch die Spezi wäre nicht die Spezi, wenn sie es nicht einfach anders machen würde. Dazu später mehr.

Normalerweise hätte man nach diesem sonnigen Wochenende (Regel Nummer eins: ein Spezi Wochenende ist IMMER sonnig) folgender Text den Weg über die Tastatur hierher gefunden.

Sie waren wieder alle da. Die Typen. All jene, die ein kleines wenig anders sind. Die mit den Sportsandalen (und (weißen?) Socken) bei jedem Wetter, die mit den Liegerädern, die Tandemfahrer, die Hochrad-Biker, die Fraktion der Lebenskünstler, die Bastler, die Tüftler, die Velo-sophen, die Liebhaber, die Fans, die (Ortlieb)-Packtaschen-Gurus und auch die Omas und Opas, die neuerdings mit dem Dreirad oder seit längerem endlich mit dem E-Fahrrad fahren wollen. Alle und natürlich auch noch die ganz „normal“ Interessierten, wobei die sich auch ein Stückweit vom Eurobike Publikum abheben. Wie auch immer, es war bunt, es war schön. Grund genug einen Streifzug zu machen über die 25.(!) Spezialradmesse im beschaulichen Germersheim in der Pfalz. Neben Mensch, Maschine und Material gab es aber auch Geschichten die das Leben schrieb … aber es sollte ja ganz anders kommen – lest selbst. Die Messe findet statt. Anders halt.

Die Maschine.

Welch ein unpassendes Wort in Zusammenhang mit der Germersheimer Spezi. Fahrräder werden hier mit Leben erfüllt, ihnen wird eine Seele zugesprochen und die zumeist käuflichen Exponate erhalten aufgrund der liebevollsten Zuwendung, die der Hersteller ihnen zuteil werden lässt, so etwas wie eine Aura. Das ist kein Schmarrn. Das kann man spüren, fühlen und mitunter auch sehen (ok,ok, 2020 müssen wir leichte Abstriche hinnehmen). Hier gibt es (fast) kein Mainstream Produkt, keine Massenproduktion, keine Großindustrie. Hier stehen die Nischenanbieter in Reih und Glied und sind dabei sich zu überbieten in Sachen Kreativität, Innovationskraft und eben dem eingangs erwähnten „Seeleneinhauchen“. Das Rad dient nicht allein dem Zwecke der Fortbewegung. Nein, mitnichten, das Rad ist Ausdruck einer Lebenseinstellung, oder wie Stefan Stiener von Velotraum so treffend sagt: „Das Rad ist ein Lebens-Mittel der besonderen Art.“

Man kann auf der Spezi also alles finden, nur nichts Gewöhnliches. Die Liegeräder beispielsweise erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Die Konstruktionsprinzipien sind bunt wie ein Blumenstrauß: Zweiräder, Langlieger, Kurzlieger, Reiselieger, Dreiräder (wahlweise vorne oder hinten zwei Achsen). HP Velotechnik bietet ein faltbares Liegedreirad (Gekko FX) an – der Rekord liegt bei 7,7 Sekunden und schon ist es auf Koffergröße reduziert. Hase Bikes haben einen besonderen Trumpf im Ärmel: mit dem seit Jahren erfolgreichen Modell Kettwiesel ist die Plattform gegeben für ein (Dreirad-Liege-)Allwetterbike, dass sich in sekundenschnelle mit einer Art Schutzschale umgibt. Willkommen beim Typ Klimax. Das Allwettertrike gibt es optional mit der Kombi Kette- und Elektroantrieb oder auch in der puristischen Version mit Kettenantrieb bzw. Rohloffnabe schon seit ein paar Jahren. Ein integrierter Poncho sorgt für den fast 100%igen Wetterschutz. Das neue Mobilitätskonzept hat schon Preise eingeheimst und man darf gespannt sein, ob diese Lösung den Weg in die (autofreien) Städte finden wird.

Hoch die Reifen

Ebenfalls einzigartig sind die Pederson Bikes. Mit dem in Dänemark erfundenen legendären Hängematten-Sattel sind diese „Hochräder“ ein Eyecatcher sondergleichen. Das Fahrgefühlt ist schon fast als erhaben zu bezeichnen.  Wahre Bike Enthusiasten geraten beim Anblick eines Pedersen in Verzückung, hinzu kommen die traumhaften Accessoires von Brooks oder moderne Zutaten wie die Rohloff Nabe, Riemenantrieb oder gar eine Scheibenbremsanlage. Gut 2500 Euro muss man investieren, dafür erhält der Kunde dann aber auch ein wahrhaft maßgeschneidertes Fahrrad mit dem er sich künftig auf sehr viele Fragen fremder Menschen einstellen muss. (utopia velo)

Das Material.

Auch hier gilt: eine Spur Seelenleben kann man finden. Egal ob es der Gürtel für die klassische Jeans ist – der beschnittene grobstollige Reifen-Gummi eines Bikekuriers erzählt sicherlich eine Geschichte vergangener Touren in der Londoner City (www.velo-re.com).

Überhaupt gibt es auf den Spezi den hinlänglich bekannten Hype der „je leichter, je teurer, je besser“ nicht. Sicherlich, Carbon ist ein bekanntes Material, Alu klassisch und Stahl seit Jahrzehnten hartgewordene Faszination, aber hier geht es um etwas anderes. Hier verschmelzen die Materialien zu Funktion, hier wird liebevoll gepflegtes Leder zum Teil des Besitzers, wenn es darum geht als Sattel oder auch nur Werkzeugtasche dienlich zu sein. Hier werden Zubehörteile nicht aufgrund einer modischen Notwendigkeit angeschraubt, sondern in vollem Umfang dem User untergeordnet.

Der Reiseradler kann seine multifunktionalen Packtaschen wasserdicht für die nächste Weltumrundung einsetzen, der Stadtmensch freut sich über stabile Zweibeinständer oder eine Geometrie die das Surfen im Asphaltdschungel so komfortabel wie möglich gestaltet. Marktführer SON präsentiert normalerweise unverändert seinen nicht nur sehr stylischen sondern vor allem auch hoch effektiven Nabendynamo „delux“ sowie den dazugehörige EdelluxII LED Scheinwerfer. Kleinstes Baumaß und bestmögliche Ausleuchtung bei gleichzeitig ständiger Verfügbarkeit unabhängig von Akku oder Batterieleistung. Grund genug das der Tüftler aus dem schwäbischen stets Bestnoten und Preise einheimst und in der Szene eine BANK ist.

Traumgreifer

Perfekt auch die vielen kleinen Nischenanbieter. Da ist zum Beispiel der am die Münchner Manufaktur Velospring (siehe auch Blogbeitrag). Holzgriffe sind nicht nur äußerst edel, sondern hochwertig und funktional eine Schau. Wer es gerne ganz anders mag, der nehme einen Fahrradrahmen von Brompton und das Versprechen, dass dieser selbstverständlich auch fahrbar und äußerst flexibel ist.

Der Mensch.

So faszinierend wie die Vielfalt der Marken und Stilrichtungen so vielschichtig die Menschen dahinter. Beispielhaft nachfolgend nun drei Geschichten, die ihren Ursprung allesamt beim Rad haben. Nehmen wir zum Beispiel Betty. Die in Italien geborene Betty mit Schweizer Pass lebt seit vielen Jahren in London und widmet sich mit Hingabe der kleine Produktion von Gürteln aus Fahrrad-Altreifen. Charmant, wie sie das schweizerische immer wieder mit einem original britischen Satz garniert um auch darüber zu erzählen, dass dort, in einer der teuersten Städte der Welt, ihre Profession daraus besteht, anderen Menschen das Fahrradfahren beizubringen. Ja, natürlich, schließlich wüssten viele Muslime oder Afrikaner und ebenso Kinder nicht, wie man Rad fährt und ihren Beruf übt sie seit vielen Jahren mit Leidenschaft aus. Zertifiziert mit allem was dazu gehört. Verkehrserziehung auf britisch. Und doch auf endlich, will Betty doch im nächsten Jahr wahrscheinlich wieder zurück in die Schweiz um „dann mal zu sehen, wie es weitergeht“. Lebenskünstler kann man nicht lernen, das ist man einfach.

Ganz anders hingegen Stefan. Der Mann, der das Rad zum „Lebens-Mittel“ erkoren hat. Er nahm 1981 Anlauf und stürzte. Aus dem Weitsprungrekord wurde nichts, das im Anschluss ein Rad als Krückenersatz dienen sollte, war eine folgenschwere Fügung des Schicksals. Fortan nahmen die zwei Räder immer mehr Raum im Leben des damals vielleicht gerade mal volljährigen Stefan ein. Das Architekturstudium wurde vollzogen, die Liebe aber galt dem Zweirad. 1987 dann, ganz in Steve Jobbs Manier, musste eine Garage als erste Werkstatt herhalten, kurz darauf folgte ein kleiner Laden, der dann schließlich Mitte der Neunziger auch ein eigenes Label,  nämlich Velotraum hervorbrachte. Viele Jahre Entwicklung und vor allem bedingungslose Liebe zum Detail sorgten für das Wachstum des zarten Pflänzchens Velotraum. Heute steht der Inhaber von Velotraum vor mir und spricht von dem Unterschied zwischen Highendbikes und Massenware und vergleicht selbige mit dem Gourmet Restaurant und McDonald. Und um das zu untermauern fügt er hinzu: „Es ist ein Irrtum zu glauben, dass alles was teuer ist, auch immer zwingend besser ist, genauso wenig wie man beim 5 Sterne Koch mehr satt wird als bei McDonald.“ Nicht jedoch ohne das „aber“ zu vergessen, indem er erklärt, dass eben der Unterschied genau darin bestehe, das die Dinge mit Liebe gemacht und in gewisser Weise auch beseelt sind. Das man Masse und Einheitsfabrikation eben sehr deutlich unterscheiden könne vom Detail, von Lösungen, die Sinn machen und die ihren Ursprung in der Erfahrung der Entwickler haben.

So hat sich Stefan seinen ganz persönlichen Traum erfüllt und lebt im wahrsten Sinne des Wortes tagtäglich seinen Velotraum. Dieses Jahre wäre Velotraum leider nicht auf der Spezi präsent gewesen.

Last but not least. Die Geschichte von Walter (www.fietsersafstappen.nl) . Der junge Mann radelt durch die Welt. Auf seinem sportlichen Liegerad war er vergangenes Jahr gleich zweimal in Skandinavien und natürlich am Nordkap bei der Mitternachtssonne zu Besuch.

Packtasche, Trinkflasche, Hilleberg Zelt und auch der Fotoapparat sind mit on Board. Die erlebten Abenteuer füllen seine niederländische Internetseite und die Fotos am Stand des Liegeradherstellers sprechen die wunderbare Sprache der Sehnsucht und Freiheit. Staub, Kerben und viele Anekdoten hat er im Gepäck. Das kalte Norwegen und die unendlichen Highways, die Natur und der plötzlich auftauchende Elch. Das Zweirad macht es möglich.

Fazit: Die 25. Spezialradmesse wäre ihr Geld wert gewesen. WEnn das Wörtchen „Corona“ nicht wäre. Exotic gepaart mit der richtigen Mischung „Besonderheit“ und „Einzigartigkeit“ unter dem Mantel einer immer noch fast familiär wirkenden Veranstaltung, die aber zunehmend professionellen Charakter erhält und dem weitgereisten und breiten Publikum eine tolle Vielfalt aus der Radwelt bietet. Genau richtig für Fans, Liebhaber, Enthusiasten, Lebenskünstler, Bastler, Tüftler und  ….. Leser wie Dich.

Womit wir beim Thema wären. Die 25. Spezi findet (live) nicht statt – sie findet bis Ende Mai aber virtuell statt. Wenn das kein Grund ist, einmal von daheim aus (wir haben ja gerade Entschleunigungszeit) einen Bummel zu machen. Wie? — klick hier.

*** © Udo Kewitsch, Apr20 in Corona Zeiten ***